Sprichwörter und Redewendungen sind das Salz in der Suppe jeder Sprache. Sie sind nicht nur sprachliche Kleinode, sondern auch Fenster zur Seele einer Nation, zu ihrer Geschichte, ihren Werten und ihrem Humor. Ungarn, ein Land mit einer reichen und oft wechselvollen Historie, hat eine Fülle solcher prägnanter Weisheiten hervorgebracht. Viele von ihnen spiegeln die bäuerliche Vergangenheit, den pragmatischen Geist und die oft melancholische, manchmal aber auch schlitzohrige Sicht auf das Leben wider.
Tauchen wir ein in die Welt der ungarischen Volksweisheit und entdecken wir zehn populäre Sprüche und ihre möglichen Ursprünge.
1. Aki korán kel, aranyat lel. Wörtlich: Wer früh aufsteht, findet Gold. Bedeutung: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Frühzeitiges Handeln und Fleiß werden belohnt. Ursprung: Diese Lebensweisheit ist universell und findet sich in vielen Kulturen. In einem Agrarland wie Ungarn, wo der Erfolg der Ernte und des Viehbestands oft von frühem Aufstehen und harter Arbeit abhing, war diese Erkenntnis von fundamentaler Bedeutung. Das „Gold“ steht hier metaphorisch für Reichtum, Erfolg oder einfach nur für einen guten Fang/Ertrag.
2. Nem esik messze az alma a fájától. Wörtlich: Der Apfel fällt nicht weit von seinem Baum. Bedeutung: Kinder ähneln ihren Eltern oft in Charakter oder Verhalten. Ursprung: Auch dieses Sprichwort ist weit verbreitet und spiegelt eine grundlegende Beobachtung der Natur und der Vererbung wider. Im ungarischen Kontext, wo Familienbande und die Weitergabe von Traditionen seit jeher eine große Rolle spielen, ist es ein häufig zitierter Hinweis auf familiäre Ähnlichkeiten, sowohl im Guten als auch im Schlechten.
3. Aki nem dolgozik, ne is egyék. Wörtlich: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Bedeutung: Eine klare Aufforderung zu Fleiß und Eigenverantwortung. Ursprung: Dieser pragmatische Spruch hat tiefe Wurzeln in der ländlichen und bäuerlichen Gesellschaft Ungarns. In Zeiten, in denen das Überleben direkt an die eigene Arbeitskraft gebunden war, war dies eine unumstößliche Regel. Es ist ein Ausdruck des protestantischen Arbeitsethos und fand später auch in der sozialistischen Propaganda eine (missbrauchte) Verwendung, um Arbeitsmoral zu fördern.
4. Sok lúd disznót győz. Wörtlich: Viele Gänse besiegen ein Schwein. Bedeutung: Viele kleine Kräfte können vereint etwas Großes oder Stärkeres besiegen. Einheit macht stark. Ursprung: Dieses bildhafte Sprichwort stammt wahrscheinlich aus der bäuerlichen Alltagswelt. Eine einzelne Gans mag harmlos erscheinen, aber eine Schar aggressiver Gänse kann selbst ein (vergleichsweise) starkes Schwein in die Flucht schlagen. Es ist ein Appell an den Zusammenhalt und die Macht der Masse.
5. Addig üsd a vasat, amíg meleg. Wörtlich: Schmiede das Eisen, solange es heiß ist. Bedeutung: Nutze eine günstige Gelegenheit, solange sie besteht. Ursprung: Die Herkunft dieses Spruchs liegt eindeutig im Handwerk, insbesondere beim Schmiedehandwerk. Nur wenn das Eisen heiß und formbar ist, kann es bearbeitet werden. Es ist ein pragmatischer Rat, der zur Entschlossenheit und zum richtigen Timing aufruft.
6. Egyik szemem sír, a másik nevet. Wörtlich: Ein Auge weint, das andere lacht. Bedeutung: Man empfindet gemischte Gefühle, Freude und Trauer gleichzeitig. Ursprung: Dieses sehr menschliche und poetische Sprichwort drückt die Komplexität des Lebens aus, in dem Glück und Leid oft Hand in Hand gehen. Es ist ein Ausdruck der tiefen emotionalen Bandbreite, die sich in der ungarischen Seele oft widerspiegelt, und könnte aus der Volksdichtung oder mündlichen Überlieferungen stammen.
7. Jobb félni, mint megijedni. Wörtlich: Besser Angst haben als erschrecken. Bedeutung: Vorsicht ist besser als Nachsicht. Es ist besser, vorbereitet zu sein und Angst zu haben, als unvorbereitet von etwas überrascht zu werden. Ursprung: Ein klassisches Beispiel für eine praktische Lebensweisheit, die aus der Erfahrung im Umgang mit potenziellen Gefahren des Alltags oder der Natur stammt. Es betont die Bedeutung von Voraussicht und Prävention.
8. Aki másnak vermet ás, maga esik bele. Wörtlich: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Bedeutung: Boshafte oder hinterhältige Pläne gegen andere können sich auf den Urheber zurückschlagen. Ursprung: Ein Sprichwort, das die universelle Moral des Karmas oder der gerechten Vergeltung ausdrückt. Es hat sicherlich biblische oder allgemeine ethische Wurzeln und findet sich in ähnlicher Form in vielen Sprachen wieder. Es ist eine Warnung vor Heimtücke und ein Plädoyer für Ehrlichkeit.
9. A hazug embert hamarabb utolérik, mint a sánta kutyát. Wörtlich: Den lügenden Menschen holen sie schneller ein als den hinkenden Hund. Bedeutung: Lügen haben kurze Beine. Die Wahrheit kommt immer ans Licht, und Lügner werden schnell entlarvt. Ursprung: Dieses bildhafte Sprichwort verdeutlicht auf humorvolle, aber treffende Weise, dass Lügen nie lange unentdeckt bleiben. Die Vorstellung des hinkenden Hundes als Metapher für Langsamkeit verstärkt die Aussage, dass die Entlarvung eines Lügners noch schneller geht.
10. Nem kolbászból van a kerítés. Wörtlich: Der Zaun ist nicht aus Wurst. Bedeutung: Das Leben ist kein Wunschkonzert; man kann nicht alles haben oder erwarten, dass etwas einfach ist. Ursprung: Dieses sehr ungarische und humorvolle Sprichwort spielt mit dem Wunsch nach Überfluss und Genuss, der in einer landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft, in der Wurst ein begehrtes Gut war, besonders stark gewesen sein muss. Der Zaun, ein Symbol für Abgrenzung und harte Realität, aus Wurst zu bauen, wäre die ultimative Wunschvorstellung. Der Spruch ist ein ironischer Hinweis auf die Grenzen der Realität und die Notwendigkeit, sich mit dem Gegebenen abzufinden.
Diese Sprüche sind nicht nur eine Sammlung von Sätzen, sondern lebendige Zeugnisse der ungarischen Kultur und ihrer kollektiven Erfahrungen. Sie bieten Einblicke in die Denkweise, die Werte und den tiefen Pragmatismus eines Volkes, das gelernt hat, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen – oft mit einer Prise Humor und einer gehörigen Portion Weisheit.