In der atemberaubenden, aber auch unerbittlichen Landschaft der italienischen Region Basilikata, hoch oben auf einem steilen Felsvorsprung, thront die Geisterstadt Craco. Was auf den ersten Blick wie eine dramatische Kulisse für einen Film wirkt – und tatsächlich diente sie als Schauplatz für Klassiker wie Mel Gibsons „Die Passion Christi“ – ist in Wahrheit das stille, melancholische Echo einer jahrhundertealten Siedlung, die von den Naturgewalten in die Knie gezwungen wurde. Craco ist kein historisches Denkmal im klassischen Sinn, sondern ein ergreifendes Zeugnis der Vergänglichkeit und der Macht der Natur.
Eine Geschichte auf brüchigem Grund
Die Geschichte von Craco reicht bis ins 8. Jahrhundert zurück, als das Dorf erstmals unter dem Namen „Graculum“ erwähnt wurde. Strategisch günstig auf einem Hügel gelegen, kontrollierte es die umliegenden Weiten und war über die Jahrhunderte ein blühendes Zentrum. Es trotzte Kriegen, Aufständen und der Zeit und wuchs zu einer Gemeinde mit über 2.000 Einwohnern heran. Das Dorf war geprägt von engen, gewundenen Gassen, Steinhäusern, einer normannischen Burg und einer beeindruckenden Kirche. Der Ausblick von den Höhen Cracos über die hügelige Landschaft und die angrenzenden Täler war legendär.
Doch die Schönheit der Lage war auch ihre größte Schwäche. Der Felsen, auf dem Craco erbaut wurde, bestand aus brüchigem Ton- und Sandgestein. Bereits in den 1930er-Jahren gab es erste Anzeichen für Instabilität, aber erst in den 1960er-Jahren setzte eine Katastrophe ein, die das Schicksal der Stadt besiegelte.
Der Exodus: Naturkatastrophen treiben die Menschen fort
Eine Reihe verheerender Ereignisse zwang die Bewohner, ihre Heimat für immer zu verlassen:
- Der Erdrutsch von 1963: In den frühen 1960er-Jahren führten intensive Regenfälle zu einem massiven Erdrutsch, der Teile des Dorfes zerstörte. Gebäude stürzten ein, Straßen wurden unpassierbar. Obwohl es keine Todesopfer gab, wurde Craco als unbewohnbar eingestuft.
- Das Erdbeben von 1980: Ein weiteres verheerendes Erdbeben in der Region gab der bereits angeschlagenen Struktur den Rest. Es war der letzte Sargnagel für das verlassene Dorf.
Die Bewohner Cracos wurden in ein neues, modernes Dorf in der Nähe umgesiedelt, das den pragmatischen Namen Craco Peschiera erhielt. Doch die Seele der Gemeinschaft, die in den alten Mauern schlug, blieb zurück.
Das heutige Craco: Ein Ort der Stille und Schönheit
Heute ist Craco eine beklemmend schöne Geisterstadt, die von einer unheimlichen Stille umgeben ist. Die Straßen sind leer, Fensterhöhlen blicken wie Augen in die Ferne, und die Zeit scheint stillzustehen. Trotz des Verfalls wird das Dorf nicht sich selbst überlassen. Es steht unter Schutz und zieht Kunstschaffende, Fotografen und Touristen an, die die einzigartige Atmosphäre suchen.
- Touristische Erkundung: Craco ist nicht frei zugänglich. Um die Sicherheit der Besucher zu gewährleisten, wurden geführte Touren eingerichtet. Mit Helm und unter Begleitung kann man durch die zerfallenden Gassen streifen und die Ruinen der Häuser und der Kirche besichtigen.
- Film-Kulisse: Die dramatische Kulisse ist für Filmemacher unwiderstehlich. Neben „Die Passion Christi“ wurden hier Szenen für Filme wie „James Bond 007 – Ein Quantum Trost“ und „König David“ gedreht.
Craco ist ein Ort, der nachdenklich stimmt. Er ist ein Mahnmal dafür, wie menschliche Zivilisationen von den Kräften der Natur geformt, aber auch wieder genommen werden können. Es erzählt die Geschichte von Familien, die ihre Heimat verlassen mussten, und von einer Gemeinschaft, deren Erbe in den windgepeitschten Ruinen weiterlebt. Ein Besuch in Craco ist eine Reise in die Vergangenheit, die uns daran erinnert, wie zerbrechlich und doch unvergesslich die menschliche Existenz sein kann.