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Ihre Frage ist exzellent und zielt auf einen fundamentalen Unterschied zwischen der Rekrutierung von Spitzenpersonal damals und heute ab. Die Vorstellung, dass man im Jahr 1860 einen talentierten französischen oder belgischen Koch nach Moskau holte, ohne die modernen Hilfsmittel wie Internet, Headhunter oder globale Stellenbörsen, wirkt aus heutiger Sicht tatsächlich rätselhaft. Doch das 19. Jahrhundert hatte seine eigenen, hochwirksamen Mechanismen.

Die Rolle des Reisens und der Reputation

Im 19. Jahrhundert, der Blütezeit der europäischen Gastronomie, war das Reisen für Köche, insbesondere für jene mit Ambitionen, weit verbreitet. Junge Talente aus Frankreich, Italien oder der Schweiz zogen oft durch Europa, um in den besten Häusern und bei den renommiertesten Meistern zu lernen und ihre Fähigkeiten zu perfektionieren. Die Wege, wie Lucien Olivier nach Moskau kam, waren daher nicht so mysteriös, wie es heute scheinen mag:

  1. Mundpropaganda und persönliche Netzwerke: Dies war der absolute Königsweg. Ein Koch, der sich in einem berühmten Restaurant in Paris, London oder Wien einen Namen gemacht hatte, wurde über die Mundpropaganda in Adelshäusern, bei Diplomaten und in wohlhabenden Kreisen bekannt. Köche waren oft in Zünften oder informellen Bruderschaften organisiert, die Empfehlungen aussprachen.
    • Wenn ein russischer Aristokrat oder ein reicher Kaufmann in Paris dinierte und vom Essen begeistert war, fragte er nach dem Koch. Gute Leistungen verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in den oberen Zehntausend Europas.
  2. Vermittler und Agenten: Auch wenn es keine „Headhunter“ im heutigen Sinne gab, existierten Netzwerke und Vermittler. Das konnten andere Köche sein, Hausangestellte, die in verschiedenen Adelsfamilien dienten, oder sogar Hoteliers und Restaurantbesitzer, die Kontakte pflegten und talentiertes Personal an andere vermittelten – oft gegen eine Provision oder als Gefallen.
  3. Die „Grand Tour“ und Reisen der Eliten: Wohlhabende Russen unternahmen oft ausgedehnte Reisen durch Westeuropa, die „Grand Tour“. Sie besuchten die besten Restaurants und Hotels und kamen dabei in direkten Kontakt mit Köchen oder deren Ruf. Wenn sie ein neues, exquisites Restaurant in Moskau eröffnen wollten, suchten sie gezielt nach solchen Talenten.
  4. Zeitungsanzeigen und Korrespondenz: Auch wenn nicht so umfassend wie heute, gab es in bedeutenden Städten Zeitungen und Fachzeitschriften, in denen durchaus Stellenausschreibungen oder Gesuche veröffentlicht wurden. Die persönliche Korrespondenz spielte ebenfalls eine große Rolle. Ein reicher Russe konnte seine Kontakte in Paris nutzen, um dort nach einem geeigneten Koch suchen zu lassen.
  5. Der Ruf der russischen Aristokratie: Die russische Aristokratie und die aufstrebende Bourgeoisie in Städten wie Moskau und Sankt Petersburg waren bekannt für ihren Reichtum und ihren Wunsch nach europäischem Luxus. Sie waren bereit, hohe Gehälter zu zahlen und beste Bedingungen zu bieten, um Top-Personal anzuziehen. Dies sprach sich in den europäischen Kochkreisen herum.
  6. „Cordon Bleu“-Schulen und Ausbildungsstätten: Obwohl formelle Kochschulen noch nicht so verbreitet waren wie heute, gab es bereits renommierte Ausbildungsorte und Meisterküchen, aus denen Absolventen hervorgingen, deren Ruf ihnen voraus eilte.

Lucien Olivier im Kontext

Lucien Olivier selbst war offenbar ein Koch von außergewöhnlichem Talent und Innovationsgeist. Sein Restaurant „Hermitage“ wurde schnell zu einem der angesagtesten Orte in Moskau. Dies deutet darauf hin, dass er bereits vor seiner Ankunft in Russland einen exzellenten Ruf gehabt haben muss, der ihn für die Moskauer Mäzene attraktiv machte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er entweder durch persönliche Empfehlungen aus europäischen Adelshäusern oder durch die Beobachtung seiner Arbeit in einem anderen renommierten Haus auf sich aufmerksam machte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das 19. Jahrhundert zwar die Technologie von heute vermisste, aber durch ein dichtes Netz persönlicher Kontakte, den Einfluss von Mundpropaganda in Elitekreisen und die Attraktivität des russischen Marktes für ambitionierte Talente eine sehr effektive Form der „Rekrutierung“ von Spitzenköchen etablierte. Der Ruf war die Währung, und Exzellenz fand ihren Weg, wenn auch auf persönlicheren und weniger automatisierten Wegen als heute.