Stellen Sie sich vor, es ist das Jahr 1987. Die Dauerwelle sitzt, die Blue Jeans sind knackeng und im Radio läuft „Looking for Freedom“. Sie cruisen stolz mit Ihrem Tatra 603 durch die leicht grauen Straßen der DDR. Ein Statussymbol auf Rädern, ein Hauch von Luxus in der sozialistischen Bruderrepublik. Doch plötzlich – ein Ruckeln, ein Stottern, und Ihr tschechoslowakisches Wunderwerk bleibt qualmend am Straßenrand stehen. Herzlichen Glückwunsch, Genosse, Sie befinden sich mitten im Tatra-Ersatzteil-Beschaffungs-Abenteuer der DDR!
Die Suche nach einem passenden Ersatzteil für Ihren kapitalistischen Schickschlitten war in etwa so einfach wie die Suche nach einem unbenutzten Parkplatz in Ostberlin zur Rush Hour – also quasi unmöglich. Der Tatra, dieses elegante Geschöpf, war schließlich kein Trabant oder Wartburg, deren Ersatzteile man gefühlt an jeder Ecke unter der Hand tauschen konnte (meist gegen eine Flasche „Goldbrand“ und das Versprechen ewiger Freundschaft).
Nein, der Tatra-Fahrer befand sich in einer eigenen, exklusiven Ersatzteil-Hölle. Die offiziellen Kanäle? Vergessen Sie es! Der VEB IFA-Vertrieb hatte für solche Exoten nur ein müdes Lächeln und denStandardspruch parat: „Genosse, planen Sie langfristig. Vielleicht in fünf bis zehn Jahren…“ Bis dahin konnte man seinen Tatra getrost als überdimensionale Gartenbank nutzen.
Also hieß es: Einfallsreichtum war Trumpf! Der findige Tatra-Besitzer entwickelte detektivische Fähigkeiten, die selbst Sherlock Holmes neidisch gemacht hätten. Man knüpfte Kontakte zu Werkstattmitarbeitern, die im Geheimen vielleicht das eine oder andere „Organisationsgeschick“ bewiesen. Man befragte Rentner, die sich an die glorreichen Zeiten erinnerten, als der Tatra noch als Dienstwagen hoher Genossen durch die Gegend schwebte – vielleicht hatten die ja noch einen alten Anlasser im Kaninchenstall gebunkert.
Der Schwarzmarkt blühte natürlich prächtig. Hier konnte man gegen Westmark (die man natürlich strengstens illegal besaß) oder im Tausch gegen den halben Hausrat so ziemlich alles bekommen – wenn man die richtigen Leute kannte und bereit war, abenteuerliche Preise zu zahlen. Ein gebrauchter Scheinwerfer vom Tatra konnte da schon mal den Wert eines gebrauchten Trabants erreichen.
Besonders kreativ wurden die Genossen, wenn es um Teile ging, die es schlichtweg nicht gab. Dann wurde improvisiert, was das Zeug hielt. Ein defekter Blinker wurde kurzerhand durch eine modifizierte Rückleuchte vom LKW ersetzt (sah zwar aus wie ein trauriger Glubscher, erfüllte aber seinen Zweck). Fehlende Dichtungen wurden aus alten Gummischläuchen geschnitzt, und ein durchgerosteter Auspufftopf wurde mit Blechdosen und viel Draht notdürftig geflickt. Der Tatra des DDR-Bürgers war somit oft ein rollendes Denkmal der Improvisationskunst.
Manchmal half auch die „Bruderhilfe“ aus der ČSSR. Verwandte oder Freunde, die drüben lebten, wurden mit dringenden Bitten und vagen Andeutungen nach „speziellen Autoteilen“ bombardiert. Die tschechoslowakischen Zollbeamten entwickelten dabei eine bemerkenswerte Gelassenheit gegenüber Kofferräumen, die verdächtig nach einer rollenden Tatra-Apotheke aussahen.
Und so mancher Tatra-Fahrer entwickelte eine fast schon spirituelle Beziehung zu seinem Gefährt. Jedes Geräusch wurde interpretiert, jede Vibration analysiert. Man kannte die Macken und Wehwehchen seines Tatras besser als die eigene Familie. Denn schließlich war die nächste Ersatzteilbeschaffungs-Odyssee nur einen knappen Motoraussetzer entfernt.
Die Ersatzteilsuche für einen Tatra in der DDR war also weniger eine praktische Angelegenheit als vielmehr ein spannendes Abenteuer, eine Mischung aus Detektivarbeit, Improvisationstalent und der ständigen Hoffnung auf ein kleines Wunder. Wer seinen Tatra am Laufen hielt, der hatte nicht nur ein Auto, sondern eine Legende erschaffen.