In der schlichten, aber genussreichen Welt der italienischen Pasta gibt es Formen, die weit über ihre Funktion als Soßenträger hinausgehen – sie sind ein Stück Identität. Die Orecchiette (ausgesprochen: Orek-kiette), wörtlich übersetzt „kleine Öhrchen“, sind ein solches kulinarisches Denkmal. Sie sind nicht nur die bekannteste Pastasorte der Region, sondern das unverkennbare Symbol Apuliens (Puglia), des Absatzes des italienischen Stiefels.
Die Geburtsstätte und die Handwerkskunst
Ihren Ursprung haben die Orecchiette im Herzen Apuliens, insbesondere in der Hauptstadt Bari. Das Besondere an dieser Nudelform ist nicht das Rezept – das traditionell nur aus Hartweizengrieß (Semola di Grano Duro) und Wasser besteht – sondern die einzigartige Art ihrer Handfertigung.
Die Orecchiette entstehen durch einen einfachen, aber kunstvollen Prozess, der oft von Generation zu Generation weitergegeben wird:
- Ein kleiner, daumengroßer Teigstrang wird abgeschnitten.
- Dieser Teig wird mit einem stumpfen Messer über eine Holzoberfläche gezogen und dabei flach gedrückt.
- Anschließend wird der Fladen über den Daumen gestülpt oder mit der Spitze des Messers umgestülpt, wodurch die charakteristische konkave (muschelartige) Form entsteht.
Diese Form ist kein Zufall, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger kulinarischer Optimierung.
Funktion über Form: Die perfekte Soßenaufnahme
Die gewölbte, raue Oberfläche der Orecchiette hat einen entscheidenden praktischen Nutzen: Sie ist perfekt dafür geschaffen, dicke, stückige und gemüsehaltige Soßen einzufangen und zu halten. Die Nudel dient als kleiner, essbarer Löffel.
Die klassische Begleitung der Orecchiette ist Cime di Rapa (Stängelkohl). Diese Kombination – Orecchiette alle Cime di Rapa – ist das apulische Nationalgericht. Die kleinen Öhrchen sind ideal, um die kleinen Brokkoli-ähnlichen Röschen und das Olivenöl perfekt aufzunehmen und in jedem Bissen ein Gleichgewicht aus Pasta, Gemüse und Würze zu gewährleisten.
Ein lebendiges Kulturgut
Wer heute durch die engen Gassen der Altstadt von Bari schlendert, kann in der berühmten „Straße der Nudeln“ (Via Arco Basso) immer noch Frauen sehen, die draußen vor ihren Häusern sitzen. In einem rhythmischen, fast meditativen Tempo formen sie auf Holzbrettern Hunderte von Orecchiette – ein lebendiges Zeugnis für die Einfachheit und die tiefe Verwurzelung dieses Pastaklassikers.
Die Orecchiette ist somit mehr als nur eine Pastasorte; sie ist das handwerkliche Symbol einer ganzen Region und ein Beweis dafür, dass die besten kulinarischen Innovationen oft aus der schlichten Notwendigkeit der Alltagsküche entstehen.

